------   Mit freundlicher Genehmigung von Jürg-Peter Lienhard, www.webjournal.ch   ------

 
Artikel vom 25.05.2005


Swiss miniature

Kitsch kommt vor Vergessen

Eine Modelleisenbahn-Anlage, vier Rentner und eine Schauspielerin machen einen der vergnüglichsten Theaterabende im Basler Stadttheater

Von Jürg-Peter Lienhard

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Max Kurrus (80) vor einem der Modell-Module seines Vereins: Die Modelleisenbahn-Anlage füllt fast das ganze Theater-Foyer. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Zücken Sie die Walther, oder secklen Sie ab, wenn Sie jemand ins Theater einlädt? Haben Sie lieber Handörgeli-Musik, statt Opernmusik? Sind Sie der Ansicht, Theater sei nur für Klugscheisser und Fidleburger? Ist für Sie Theater stinklangweilig, und halten Sie Schauspieler für affektierte Hysteriker oder weltfremde Schlampen? Haben Sie keine Abendgarderobe, oder sind Sie auf Krawatten allergisch? Ist für Sie Theater einfach nur unnötiger Luxus für die oberen Zehntausend und daher die Steuermillionen, die es Jahr für Jahr verpulvert, nicht wert?

Wenn Sie nur eine dieser Fragen mit «ja» beantworten, dann gibts für Sie ebenfalls nur eines: Sofort eine Karte besorgen für die gewiss bald ausverkauften Vorstellungen von «Mnemopark» - eines der vergnüglichsten Theater-Spektakel, das bislang im Foyer des Basler Stadttheaters aufgeführt wurde!

Sagte ich «aufgeführt»? Das ist das falsche Wort! Da wird nämlich gespielt - gespielt mit Modell-Eisenbahnen auf einer riesigen Modelleisenbahn-Anlage im Masstab eins zu siebenundachtzig, Spur H0m. Die «Hauptrolle» nimmt eine feuerrote «Re 4/4» ein, die auf einem Güterwagen eine Mini-Videokamera vor sich herschiebt. Die Bilder dieser Kamera gelangen per Funk auf eine Grossleinwand, wo man dann die Fahrt durch Teile der Schweiz und über eine Stahl-Fachwerkbrücke bei Leipzig erleben kann, als sei man im Führerstand einer «richtigen» Lok.

       

Station «Schweizerhalle» - Station auch eines indischen Krimi-Kitsch-Thrillers mit Kuss-Verbot… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Der «Hit» sind aber die vier Rentner, drei Männer und eine Frau (!), die als Mitglieder des Vereins «Modulbau-Freunde Basel» (MFB) die etwa 40 Laufmeter umfassende Modul-Anlage gebaut haben und als «Schauspieler» mit Feuereifer dabei sind. Regisseur Stefan Kaegi, ein Solothurner, hat ihnen die Abläufe zugeteilt und sie in eine Handlung integriert. «Amateur-Schauspieler» will sie Kaegi nicht heissen - im Gegenteil: diese «Yysebähnler» seien echte Profis und Fachleute. Worüber sie erzählen, wissen nur sie am besten Bescheid.

Und wie sie das denn machen, was sie erzählen, während die Lok mit der Videokamera die verschiedenen Stationen anfährt, das ist spannend, verblüffend und rührend zugleich, vor allem, wenn sie dann und wann Teile ihrer Biografie preisgeben. Diese wackeren Leute, die bislang mit Theater nichts am Hut hatten, sind mit ihren von Herz und Leber weg erzählten Geschichten die Stars des Abends!



Station «Sägewerk» mit Vollgatter-Säge, die wirklich sägt… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Mitunter parodieren sie sich selbst: Einer spielt Schwyzerörgerli, während die anderen gewollt kitschig Eichendorffs Romantik-Ohrwurm «Im schönsten Wiesengrunde» nach der Musik von Felix
Mendelssohn-Bartholdy singen - nicht schlecht gesungen, und doch mit gut hörbarem Augenzwinker…

Der schlaue Kägi hat da ein Potential entdeckt, es wachgekitzelt und - das muss doch auch noch gesagt werden - hat das Leidenschaftliche der Modellbauer mit einem Konzept «angereichert», das im Kern auf den Landschaftsverschleiss, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturwandel in der Landwirtschaft sowie auf das Bild einer «heilen Welt» abzielt. Ein tschechischer Philosoph sagte: Kitsch kommt vor dem Vergessen, womit beispielsweise auch die jungen Gründer des elsässischen Freilichtmuseums «Ecomusée d‘Alsace» sich zu ihrer retrospektiven Tätigkeit berechtigt fühlen.



«Fleischberg» (im Hintergrund) mit Huhn (lebend, im Vordergrund). Das Federvieh wollte und wollte an der Premiere kein Ei legen, wie es eigentlich hätte müssen… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Das Cliché des Alpenlandes Schweiz, wo Kühe wie zu Urväters Zeiten grasen, wo Bauern freiwillige Landschaftsgärner sind - wir wissen es, ist eben ein Cliché. Wissen wir es wirklich? Clichés sind fast nicht auszurotten! Davon zeugen die auf der Videoreise eingeblendeten Filmausschnitte von «Bollywood», dem indischen Kino, das für seine sagenhaften Kitschfilme gerne und stets die «heile» Alpenlandschaft der Schweiz verwendet.

Das «Road-Movie-Film-Theater» verwendet denn die Miniatur-Stationen, die von der Kamera-Lok angefahren werden, auch als Stationen von kurzen Geschichten. Eine dieser Stationen ist Bannwil im Berner Emmental, wo die knapp dreissigjährige Rahel Hubacher - alle berühmten Emmentaler heissen Hubacher - aufgewachsen ist. Sie ist eine Bauerntochter, hat aber am Theater Basel in Guy Krnetas «Ursle - Monolog für eine Schauspielerin» als wundervoller Dickkopf sensationell debütiert und ist in «Mnemopark» gewissermassen die Moderatorin, die durch die Stationen und Fahrten führt.



Heidys Stolz: Die Gärtnerei mit den Gewächshäusern und dem Blumenmeer. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Wenn der Zug an dem vom achtzigjährigen Max Kurrus gebauten Bahnhof Bannwil bei Langenthal hält, empfängt der Vater von Rahel Hubacher die Reisenden auf dem Bahnhof (als Videoeinspielung). Aetti Hubacher ist ein typischer Bauer der Gegenwart und verkörpert als solcher die Tragik des hiesigen Bauernstandes: Er hat mit Kühen angefangen, wechselte dann auf Zuckerrüben und vermietet jetzt Bagger, die er im ehemaligen Kuhstall parkiert hat. Nix von heiler Bauernwelt…

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«Was ist Bannwil, wenn es nicht mehr da ist? Wie ist das mit der Erinnerung: Vergisst man erst das Dorf - wie es aussieht, wie es riecht, wie es schmeckt oder wie es sich anfühlt - oder vergisst man erst den Namen?» (Rahel Hubacher)
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Andere Stationen sind der «Fleischberg», welcher von dogmatischen MFB-Mitgliedern als «Blödsinn» bezeichnet wird - «aber die haben das eben nicht begriffen», meint Max Kurrus, der mit seinen achtzig Jährchen immer noch bereit ist «mitzumachen» und daher auch begriffen hat, was der «Fleischberg» mit seinem Miniatur-Milchschwemme-Bach, in der sonst komplett naturgetreu nachgebildeten Modell-Landschaft bedeutet: nämlich ein «Gleichnis», eine Metapher - und solches gehört halt eben zum Theater, damit die Hirnzellen angeregt werden…



Der Blick verrät den Kenner: Premieren-Gast, nicht mehr von der Modelleisenbahn-Anlage wegzubringen… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Wo immer der Zug anhält, gibt es was zu erzählen. Seis von den Modellbauern selbst, seis mit eingespielten Filmsequenzen. Und manches tönt absurd, tönt nicht nur, sondern ist es: Der Besamungs-Techniker, der seine tiefgekühlten Stieren-Spermata im Kofferraum seines Autos zu den Kunden fährt - zum Beispiel. Dann schildert Rahel Hubacher mit gespielt monotoner Stimme, dass man eine Kuh «nach Mass» herstellen lassen kann, was mittels künstlicher Besamung geschieht. Im umfangreichen Besamungs-Katalog gibts Varianten für Zitzenlänge, Lendenumfang, Farbe des Fells, Eutergrösse, Milchleistung etc. Nix von heiler Kuh-Welt.

Die geschickte Gegenüberstellung von Scheinwelt und Realwelt verdichten das Thema, das der «Mnemopark» anspricht: «Die Botschaft hör‘ ich wohl…» Aber gleichzeitig öffnet er mit den selbst präsentierten Biografien der vier Pensionierten eine unbekannte Welt, die wir bislang mit dem Clichés des «Kleinbürgervergnügens» abgetan haben. Da haben wirs wieder: Cliché, Cliché, Cliché…



Eine Miniaturweide ist eben keine richtige Weide, wenn dort Miniaturkühe - zu 15.70 Franken pro Packung - nicht auch Kuhfladen hinterlassen: Ein Miniaturkuhfladen besteht aus einem dunkelgrün angemalten Tropfen gehärtetem Holzleim… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Da ist zum Beispiel das Mitglied des Vereins Modul-Freunde Basel, Heidy Louise Ludewig. Sie widerspricht dem Cliché der «Modell-Yysebähnler» in jeder Beziehung: Zunächst ungewöhnlich ist, dass sie als Frau in dieser scheinbar nur von «grossen Buben» beherrschten Domäne mitmacht. Und erst noch höchst kompetent. Weiter hat die in Leipzig aufgewachsene Frau den Beruf der Stahlbauschlosserin erlernt, Fachwerkbrücken aus Stahl gebaut - heute aber pflegt sie als «Nebenhobby» die Seidenmalerei… Sie flüchtete aus der DDR und hat hier Karriere als Lehrerin und Designerin gemacht. Ihre Module baut sie aufgrund literarischer Landschaften wie Lummerland, Schloss Neuschwanstein oder das Schlaraffenland aus «Der 35. Mai».

Oder Hermann Löhle aus Konstanz am Bodensee. Der war früher Möbelschreiner, und als die Spanplatten-Kultur aufkam, wechselte er als Galvanotechniker. Er betätigt sich seit seiner Penisonierung auch als Taucher oder Fahrradfahrer.

Der vierte im Bunde und erst noch der jüngste ist René Mühlethaler aus Basel. Er lernte Maschinenzeichner, sprang frühzeitig 1966 auf das Trittbrett der Informatik und ist heute Präsident des Vereins Modulbau-Freunde Basel.



Der Initiant und Regisseur von «Mnemopark», Stefan Kaegi, beim Ausmessen eines Modell-Moduls. Foto: Sebastian Hoppe, Theater Basel © 2005



Nebst den vielen Mitwirkenden vor und hinter den «Kulissen» - die Liste ist ziemlich lang - sei noch Nicki Neecke, für Ton und Musik verantwortlich, sowie Werner Buser als technischer Berater des Vereins MFB erwähnt.


Was man auf den Video-Reisen erfährt

«Bis ins 17. Jahrhundert war Landschaft in der Kunst ausschliesslich Hintergrund. Einzig der Genfersee von Conrad Witz wurde schon 1444 gemalt - aber allein, um Territorialansprüche für den Herzog von Savoyen klarzustellen.

Erst in der Romantik blühte die Landschaft als Hauptdarstellerin auf Bildern auf. Als klar war, dass die Alpen nicht vom Teufel persönlich bewohnt werden, begann man sie, als das Erhabene abzubilden. Selbst Berge im Lake District wurden jetzt "alpinisiert", überhöht dargestellt, dazu gehörte auch das Alpenglühen.

Wobei historisch belegt werden kann, dass das schönste Alpenglühen immer dann gesehen und gemalt wurde, wenn irgendwo auf der Welt ein Vulkan explodierte, und die Partikel sich in der ganzen Atmosphäre verteilten... wie zum Beispiel 1883 der Krakatau zwischen Jawa und Sumatra. Als er explodierte, hatte das ein ganzes Malereijahrzehnt der roten Sonnenuntergänge zur Folge.»

«Eine Kuh kostet heute noch 3‘700 Franken. Vor der BSE-Krise konnte eine gute Kuh bis 30 000 Franken kosten.»

«Eine Packung Modellkühe kostet hingegen nur 15,70 Franken.»

«Wussten Sie, dass die 3,5 Prozent Bauern in der Schweiz 17 Prozent der eidgenössischen Treibhausgasproduktion verantworten müssen - beinahe doppelt so viel wie Industrie oder Dienstleistungsgewerbe verursachen?»

Warum?

«Über Gärungsprozesse beim Wiederkäuen sowie über Kot und Urin gelangen die hochwirksamen Treibhausgase Methan und Lachgas in die Atmosphäre. Was dabei pro Kuh und Jahr anfällt, erwärmt die Erdatmosphäre gleich stark wie viereinhalb Tonnen Kohlendioxid. Eine Kuh produziert also gleich viel Treibhausgase wie zwei VW Golf.»



Anzahl Traktoren pro 10 Quadratkilometer Ackerland:
Australien: 7
Frankreich: 80
England: 80
Schweiz: 270 (zweihundertsiebzig!)


Was es im Modellseisenbahn-Katalog bereits gibt:

• Pfarrer in Eile • Zeitungsleser • Star • Konrad Adenauer • Ludwig Erhardt • Sensemann • Mann oder Frau in Urner Tracht • Künstler u.a.


Was es im Modeleisenbahn-Katalog noch nicht gibt:

• AKWs • die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) • Laptops • Natels • Josef Ackermann • Drogensüchtige • Theater Basel • Asylbewerber • Herzog & de Meuron • Terroristen • Satellitienschüsseln • Selbstmörder, die sich vor den Zug werfen…



Was will Stefan Kaegi, der Regisseur von «Mnemopark»?

«Mnemopark» heisst der Abend, weil es um Erinnerung geht. Mich interessiert die Fiktion, was dann übrig bleiben würde, wenn wir mal ganz wirtschaftlich denken und sagen würden: Es gibt keine Bauern mehr. Wenn man das tun würde, stellt sich die Frage: Was wird aus den Landschaften? Es gibt Visionen, wie alles sofort verwalden würde, was ich eine ganz tolle Bedrohung finde: Alles wächst zu, eigentlich ein schönes Bild.

Aber welche Erinnerung bleibt übrig an Naturerlebnissen, wie wir sie beim Wandern hatten, wie wir sie bei Ferien auf dem Bauernhof erhoffen oder wie sie indische Filmteams suchen, wenn sie unsere Landschaft als Filmset buchen? Und was generieren eigentlich die Modelleisenbahner für eine Erinnerung? Wie wäre die Welt, wenn sie tatsächlich nur aus dieser Eisenbahnwelt bestehen würde?



Was heisst eigentlich «Mnemo»?

Mnemo kommt von Mneme, eine der drei originalen Musen. Sie war die Muse des Gedächtnisses und der Erinnerung. Ihre Schwestern sind Aoide (Muse der Musik) und Melete (Muse der Meditation).


Weitere Vorstellungen bis Ende der Spielzeit 2004/05

Samstag, 28. Mai 2005, 20.00 Uhr
Mittwoch, 1. Juni 2005, 20.00 Uhr
Mittwoch, 8. Juni 2005, 20.00 Uhr
Freitag, 10. Juni 2005, 20.00 Uhr
Montag, 13. Juni 2005, 20.00 Uhr
Dienstag, 21. Juni 2005, 20.00 Uhr

«Mnemopark» wird in der Spielzeit 2005/06 wiederaufgenommen.



Die Mitwirkenden:

Konzept und Regie: Stefan Kaegi
Bild: Lex Vögtli
Video: Jeanne Rüfenacht
Sound: Niki Neecke
Lich: Christopher Moos
Dramaturgie: Andrea Schwieter

mit:

Rahel Hubacher
Max Kurrus
Hermann Löhle
Heidy Louise Ludewig
René Mühlethaler
Niki Neecke

Von Jürg-Peter Lienhard

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