Swiss miniature
Kitsch kommt vor Vergessen
Eine
Modelleisenbahn-Anlage, vier Rentner und eine Schauspielerin machen
einen der vergnüglichsten Theaterabende im Basler Stadttheater
Von Jürg-Peter Lienhard
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Max Kurrus (80) vor einem der Modell-Module seines Vereins: Die
Modelleisenbahn-Anlage füllt fast das ganze Theater-Foyer. Foto: J.-P.
Lienhard, Basel © 2005
Zücken Sie die Walther, oder secklen Sie ab, wenn Sie jemand ins
Theater einlädt? Haben Sie lieber Handörgeli-Musik, statt Opernmusik?
Sind Sie der Ansicht, Theater sei nur für Klugscheisser und
Fidleburger? Ist für Sie Theater stinklangweilig, und halten Sie
Schauspieler für affektierte Hysteriker oder weltfremde Schlampen?
Haben Sie keine Abendgarderobe, oder sind Sie auf Krawatten allergisch?
Ist für Sie Theater einfach nur unnötiger Luxus für die oberen
Zehntausend und daher die Steuermillionen, die es Jahr für Jahr
verpulvert, nicht wert?
Wenn Sie nur eine dieser Fragen mit «ja» beantworten, dann
gibts für Sie ebenfalls nur eines: Sofort eine Karte besorgen für die
gewiss bald ausverkauften Vorstellungen von «Mnemopark» - eines der
vergnüglichsten Theater-Spektakel, das bislang im Foyer des Basler
Stadttheaters aufgeführt wurde!
Sagte ich «aufgeführt»? Das ist das falsche Wort! Da wird nämlich
gespielt - gespielt mit Modell-Eisenbahnen auf einer riesigen
Modelleisenbahn-Anlage im Masstab eins zu siebenundachtzig, Spur H0m.
Die «Hauptrolle» nimmt eine feuerrote «Re 4/4» ein, die auf einem
Güterwagen eine Mini-Videokamera vor sich herschiebt. Die Bilder dieser
Kamera gelangen per Funk auf eine Grossleinwand, wo man dann die Fahrt
durch Teile der Schweiz und über eine Stahl-Fachwerkbrücke bei Leipzig
erleben kann, als sei man im Führerstand einer «richtigen» Lok.
Station «Schweizerhalle» - Station auch eines indischen
Krimi-Kitsch-Thrillers mit Kuss-Verbot… Foto: J.-P. Lienhard, Basel ©
2005
Der «Hit» sind aber die vier Rentner, drei Männer und eine Frau (!),
die als Mitglieder des Vereins «Modulbau-Freunde Basel» (MFB) die etwa
40 Laufmeter umfassende Modul-Anlage gebaut haben und als
«Schauspieler» mit Feuereifer dabei sind. Regisseur Stefan Kaegi, ein
Solothurner, hat ihnen die Abläufe zugeteilt und sie in eine Handlung
integriert. «Amateur-Schauspieler» will sie Kaegi nicht heissen - im
Gegenteil: diese «Yysebähnler» seien echte Profis und Fachleute.
Worüber sie erzählen, wissen nur sie am besten Bescheid.
Und wie sie das denn machen, was sie erzählen, während die Lok mit der
Videokamera die verschiedenen Stationen anfährt, das ist spannend,
verblüffend und rührend zugleich, vor allem, wenn sie dann und wann
Teile ihrer Biografie preisgeben. Diese wackeren Leute, die bislang mit
Theater nichts am Hut hatten, sind mit ihren von Herz und Leber weg
erzählten Geschichten die Stars des Abends!
Station «Sägewerk» mit Vollgatter-Säge, die wirklich sägt… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005
Mitunter parodieren sie sich selbst: Einer spielt Schwyzerörgerli,
während die anderen gewollt kitschig Eichendorffs Romantik-Ohrwurm «Im
schönsten Wiesengrunde» nach der Musik von Felix
Mendelssohn-Bartholdy singen - nicht schlecht gesungen, und doch mit gut hörbarem Augenzwinker…
Der schlaue Kägi hat da ein Potential entdeckt, es wachgekitzelt und -
das muss doch auch noch gesagt werden - hat das Leidenschaftliche der
Modellbauer mit einem Konzept «angereichert», das im Kern auf den
Landschaftsverschleiss, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Strukturwandel in der Landwirtschaft sowie auf das Bild einer «heilen
Welt» abzielt. Ein tschechischer Philosoph sagte: Kitsch kommt vor dem
Vergessen, womit beispielsweise auch die jungen Gründer des
elsässischen Freilichtmuseums «Ecomusée d‘Alsace» sich zu ihrer
retrospektiven Tätigkeit berechtigt fühlen.
«Fleischberg» (im Hintergrund) mit Huhn (lebend, im Vordergrund).
Das Federvieh wollte und wollte an der Premiere kein Ei legen, wie es
eigentlich hätte müssen… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005
Das Cliché des Alpenlandes Schweiz, wo Kühe wie zu Urväters Zeiten
grasen, wo Bauern freiwillige Landschaftsgärner sind - wir wissen es,
ist eben ein Cliché. Wissen wir es wirklich? Clichés sind fast nicht
auszurotten! Davon zeugen die auf der Videoreise eingeblendeten
Filmausschnitte von «Bollywood», dem indischen Kino, das für seine
sagenhaften Kitschfilme gerne und stets die «heile» Alpenlandschaft der
Schweiz verwendet.
Das «Road-Movie-Film-Theater» verwendet denn die Miniatur-Stationen,
die von der Kamera-Lok angefahren werden, auch als Stationen von kurzen
Geschichten. Eine dieser Stationen ist Bannwil im Berner Emmental, wo
die knapp dreissigjährige Rahel Hubacher - alle berühmten Emmentaler
heissen Hubacher - aufgewachsen ist. Sie ist eine Bauerntochter, hat
aber am Theater Basel in Guy Krnetas «Ursle - Monolog für eine
Schauspielerin» als wundervoller Dickkopf sensationell debütiert und
ist in «Mnemopark» gewissermassen die Moderatorin, die durch die
Stationen und Fahrten führt.
Heidys Stolz: Die Gärtnerei mit den Gewächshäusern und dem Blumenmeer. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005
Wenn der Zug an dem vom achtzigjährigen Max Kurrus gebauten Bahnhof
Bannwil bei Langenthal hält, empfängt der Vater von Rahel Hubacher die
Reisenden auf dem Bahnhof (als Videoeinspielung). Aetti Hubacher ist
ein typischer Bauer der Gegenwart und verkörpert als solcher die Tragik
des hiesigen Bauernstandes: Er hat mit Kühen angefangen, wechselte dann
auf Zuckerrüben und vermietet jetzt Bagger, die er im ehemaligen
Kuhstall parkiert hat. Nix von heiler Bauernwelt…
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«Was ist Bannwil, wenn es nicht mehr da ist? Wie ist das mit der
Erinnerung: Vergisst man erst das Dorf - wie es aussieht, wie es
riecht, wie es schmeckt oder wie es sich anfühlt - oder vergisst man
erst den Namen?» (Rahel Hubacher)
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Andere Stationen sind der «Fleischberg», welcher von dogmatischen
MFB-Mitgliedern als «Blödsinn» bezeichnet wird - «aber die haben das
eben nicht begriffen», meint Max Kurrus, der mit seinen achtzig
Jährchen immer noch bereit ist «mitzumachen» und daher auch begriffen
hat, was der «Fleischberg» mit seinem Miniatur-Milchschwemme-Bach, in
der sonst komplett naturgetreu nachgebildeten Modell-Landschaft
bedeutet: nämlich ein «Gleichnis», eine Metapher - und solches gehört
halt eben zum Theater, damit die Hirnzellen angeregt werden…
Der Blick verrät den Kenner: Premieren-Gast, nicht mehr von der
Modelleisenbahn-Anlage wegzubringen… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2005
Wo immer der Zug anhält, gibt es was zu erzählen. Seis von den
Modellbauern selbst, seis mit eingespielten Filmsequenzen. Und manches
tönt absurd, tönt nicht nur, sondern ist es: Der Besamungs-Techniker,
der seine tiefgekühlten Stieren-Spermata im Kofferraum seines Autos zu
den Kunden fährt - zum Beispiel. Dann schildert Rahel Hubacher mit
gespielt monotoner Stimme, dass man eine Kuh «nach Mass» herstellen
lassen kann, was mittels künstlicher Besamung geschieht. Im
umfangreichen Besamungs-Katalog gibts Varianten für Zitzenlänge,
Lendenumfang, Farbe des Fells, Eutergrösse, Milchleistung etc. Nix von
heiler Kuh-Welt.
Die geschickte Gegenüberstellung von Scheinwelt und Realwelt verdichten
das Thema, das der «Mnemopark» anspricht: «Die Botschaft hör‘ ich
wohl…» Aber gleichzeitig öffnet er mit den selbst präsentierten
Biografien der vier Pensionierten eine unbekannte Welt, die wir bislang
mit dem Clichés des «Kleinbürgervergnügens» abgetan haben. Da haben
wirs wieder: Cliché, Cliché, Cliché…
Eine Miniaturweide ist eben keine richtige Weide, wenn dort
Miniaturkühe - zu 15.70 Franken pro Packung - nicht auch Kuhfladen
hinterlassen: Ein Miniaturkuhfladen besteht aus einem dunkelgrün
angemalten Tropfen gehärtetem Holzleim… Foto: J.-P. Lienhard, Basel ©
2005
Da ist zum Beispiel das Mitglied des Vereins Modul-Freunde Basel, Heidy
Louise Ludewig. Sie widerspricht dem Cliché der «Modell-Yysebähnler» in
jeder Beziehung: Zunächst ungewöhnlich ist, dass sie als Frau in dieser
scheinbar nur von «grossen Buben» beherrschten Domäne mitmacht. Und
erst noch höchst kompetent. Weiter hat die in Leipzig aufgewachsene
Frau den Beruf der Stahlbauschlosserin erlernt, Fachwerkbrücken aus
Stahl gebaut - heute aber pflegt sie als «Nebenhobby» die
Seidenmalerei… Sie flüchtete aus der DDR und hat hier Karriere als
Lehrerin und Designerin gemacht. Ihre Module baut sie aufgrund
literarischer Landschaften wie Lummerland, Schloss Neuschwanstein oder
das Schlaraffenland aus «Der 35. Mai».
Oder Hermann Löhle aus Konstanz am Bodensee. Der war früher
Möbelschreiner, und als die Spanplatten-Kultur aufkam, wechselte er als
Galvanotechniker. Er betätigt sich seit seiner Penisonierung auch als
Taucher oder Fahrradfahrer.
Der vierte im Bunde und erst noch der jüngste ist René Mühlethaler aus
Basel. Er lernte Maschinenzeichner, sprang frühzeitig 1966 auf das
Trittbrett der Informatik und ist heute Präsident des Vereins
Modulbau-Freunde Basel.
Der Initiant und Regisseur von «Mnemopark», Stefan Kaegi, beim
Ausmessen eines Modell-Moduls. Foto: Sebastian Hoppe, Theater Basel ©
2005
Nebst den vielen Mitwirkenden vor und hinter den «Kulissen» - die Liste
ist ziemlich lang - sei noch Nicki Neecke, für Ton und Musik
verantwortlich, sowie Werner Buser als technischer Berater des Vereins
MFB erwähnt.
Was man auf den Video-Reisen erfährt
«Bis ins 17. Jahrhundert war Landschaft in der Kunst ausschliesslich
Hintergrund. Einzig der Genfersee von Conrad Witz wurde schon 1444
gemalt - aber allein, um Territorialansprüche für den Herzog von
Savoyen klarzustellen.
Erst in der Romantik blühte die Landschaft als Hauptdarstellerin auf
Bildern auf. Als klar war, dass die Alpen nicht vom Teufel persönlich
bewohnt werden, begann man sie, als das Erhabene abzubilden. Selbst
Berge im Lake District wurden jetzt "alpinisiert", überhöht
dargestellt, dazu gehörte auch das Alpenglühen.
Wobei historisch belegt werden kann, dass das schönste Alpenglühen
immer dann gesehen und gemalt wurde, wenn irgendwo auf der Welt ein
Vulkan explodierte, und die Partikel sich in der ganzen Atmosphäre
verteilten... wie zum Beispiel 1883 der Krakatau zwischen Jawa und
Sumatra. Als er explodierte, hatte das ein ganzes Malereijahrzehnt der
roten Sonnenuntergänge zur Folge.»
«Eine Kuh kostet heute noch 3‘700 Franken. Vor der BSE-Krise konnte eine gute Kuh bis 30 000 Franken kosten.»
«Eine Packung Modellkühe kostet hingegen nur 15,70 Franken.»
«Wussten Sie, dass die 3,5 Prozent Bauern in der Schweiz 17 Prozent
der eidgenössischen Treibhausgasproduktion verantworten müssen -
beinahe doppelt so viel wie Industrie oder Dienstleistungsgewerbe
verursachen?»
Warum?
«Über Gärungsprozesse beim Wiederkäuen sowie über Kot und Urin gelangen
die hochwirksamen Treibhausgase Methan und Lachgas in die Atmosphäre.
Was dabei pro Kuh und Jahr anfällt, erwärmt die Erdatmosphäre gleich
stark wie viereinhalb Tonnen Kohlendioxid. Eine Kuh produziert also
gleich viel Treibhausgase wie zwei VW Golf.»
Anzahl Traktoren pro 10 Quadratkilometer Ackerland:
Australien: 7
Frankreich: 80
England: 80
Schweiz: 270 (zweihundertsiebzig!)
Was es im Modellseisenbahn-Katalog bereits gibt:
• Pfarrer in Eile • Zeitungsleser • Star • Konrad Adenauer • Ludwig
Erhardt • Sensemann • Mann oder Frau in Urner Tracht • Künstler u.a.
Was es im Modeleisenbahn-Katalog noch nicht gibt:
• AKWs • die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) • Laptops
• Natels • Josef Ackermann • Drogensüchtige • Theater Basel •
Asylbewerber • Herzog & de Meuron • Terroristen •
Satellitienschüsseln • Selbstmörder, die sich vor den Zug werfen…
Was will Stefan Kaegi, der Regisseur von «Mnemopark»?
«Mnemopark» heisst der Abend, weil es um Erinnerung geht. Mich
interessiert die Fiktion, was dann übrig bleiben würde, wenn wir mal
ganz wirtschaftlich denken und sagen würden: Es gibt keine Bauern mehr.
Wenn man das tun würde, stellt sich die Frage: Was wird aus den
Landschaften? Es gibt Visionen, wie alles sofort verwalden würde, was
ich eine ganz tolle Bedrohung finde: Alles wächst zu, eigentlich ein
schönes Bild.
Aber welche Erinnerung bleibt übrig an Naturerlebnissen, wie wir sie
beim Wandern hatten, wie wir sie bei Ferien auf dem Bauernhof erhoffen
oder wie sie indische Filmteams suchen, wenn sie unsere Landschaft als
Filmset buchen? Und was generieren eigentlich die Modelleisenbahner für
eine Erinnerung? Wie wäre die Welt, wenn sie tatsächlich nur aus dieser
Eisenbahnwelt bestehen würde?
Was heisst eigentlich «Mnemo»?
Mnemo kommt von Mneme, eine der drei originalen Musen. Sie war die Muse
des Gedächtnisses und der Erinnerung. Ihre Schwestern sind Aoide (Muse
der Musik) und Melete (Muse der Meditation).
Weitere Vorstellungen bis Ende der Spielzeit 2004/05
Samstag, 28. Mai 2005, 20.00 Uhr
Mittwoch, 1. Juni 2005, 20.00 Uhr
Mittwoch, 8. Juni 2005, 20.00 Uhr
Freitag, 10. Juni 2005, 20.00 Uhr
Montag, 13. Juni 2005, 20.00 Uhr
Dienstag, 21. Juni 2005, 20.00 Uhr
«Mnemopark» wird in der Spielzeit 2005/06 wiederaufgenommen.
Die Mitwirkenden:
Konzept und Regie: Stefan Kaegi
Bild: Lex Vögtli
Video: Jeanne Rüfenacht
Sound: Niki Neecke
Lich: Christopher Moos
Dramaturgie: Andrea Schwieter
mit:
Rahel Hubacher
Max Kurrus
Hermann Löhle
Heidy Louise Ludewig
René Mühlethaler
Niki Neecke
Von Jürg-Peter Lienhard
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